Die Physiotherapie ist eine wunderbare und eigenständige Profession. Kein Hilfsberuf oder Beiwerk zu einer Behandlung. Es wird Zeit, dass die Physiotherapeuten dies erkennen und ihr Handeln danach ausrichten! Was hindert uns jedoch daran uns unserer Wichtigkeit bewusst zu werden und die nötigen Schritte zu gehen? Dem gehe ich in diesem Artikel auf den Grund. Zudem entwickle ich Ideen zur Verbesserung der Situation.
1. Die Geschichte der PT
Die deutsche Physiotherapie entstand um 1900 als Ausbildungsberuf, welcher sich aus der Heilgymnastik der ärztlichen Profession entwickelte [1]. Als Beruf für Frauen, die dem Arzt unterstellt waren und als ausführende Gewalt agierten zeigt sich bereits hier das erste Dilemma. Krankengymnastik war eine Behandlungsform, keine Profession! Die Strukturen haben sich seitdem auf dem Papier kaum geändert. Physiotherapeuten führen Krankengymnastik aus. Warum machen Sie keine Physiotherapie? Sie sind weisungsgebunden durch ein Rezept vom Arzt. Somit erscheinen die Strukturen ähnlich denen um 1900.
Ein Rezept wird jedoch auch für ein Medikament ausgestellt. Ist ein Arzt sich sicher, dass ein anderer Arzt, beispielsweise ein Neurologe, sich den Patienten anschauen muss, so stellt er eine Überweisung aus. Warum wird nicht zu einem Physiotherapeuten überwiesen?
2. Grabenkriege innerhalb der jungen Profession
Neben den historischen Dilemmata gibt es einige aktuelle Themen, welche immer wieder dafür sorgen, dass die Physiotherapie nicht erstarken kann.
Man betrachte die Kleinkriege die gerade in dieser Zeit aktueller denn je sind. Es scheint gespaltene Lager zu geben. Die Evidenzritter, die nur den Studien glauben schenken können und die Praktiker, die einzig ihren Händen vertrauen. Täglich liest man Studienergebnisse, die uns wieder einmal erklären, dass eine bestimmte Therapieform keinen Nutzen hat. Wir lesen auch, dass vor allem Sport, graduierte Belastungssteigerung und Edukation die Mittel der Wahl zur Beseitigung aller Probleme sind. Manuelle Therapie, Chiropraktik und andere „Hands-on“-Therapieformen haben laut Studien kaum Effekte. Man sieht aber auch Videos in denen Manipulationen und Gelenkmobilisationen innerhalb kürzester Zeit zu enormen Erfolgen führen. Das entgegen der allgemeinen Studienergebnisse.
Die Diskussionen um den heiligen Gral der Physiotherapie entfachen sich auch unter Posts von Physiotherapiezeitschriften. Wie oft lese ich in den Kommentarzeilen von Fallbeispielen nur Argumente gegen die Herangehensweise anderer Personen. Statt hinzunehmen, was andere machen würden stellt jeder den anderen infrage. Es entsteht eine Diskussionskultur die weder konstruktiv noch sachlich ist. Es scheint mehr und mehr darum zu gehen andere zu hinterfragen als sich zu überlegen welche Ideen man eventuell in sein eigenes Handeln einbauen könnte. In dieser Hinsicht entwickeln Physiotherapeuten ein viel zu großes Ego. Dies steht ihnen nicht und nimmt den Blick für das Wesentliche. Konfrontation und Angriff hat zudem noch nie Einsicht generiert.
3. Der Markt entscheidet
In den Momenten in denen ich diese Kommentare von wirklich schlauen und sicher sehr gut ausgebildeten Kollegen lese, bin ich betrübt wie offen andere Berufsangehörige angegriffen werden. Kann diese Zeit und das Know-how nicht besser eingesetzt werden? Einfach konstruktiver? Was ist, wenn ich mein Ego zurücknehme und akzeptiere, dass andere Menschen andere Ansätze verfolgen könnten. Dass Physiotherapie mehrschichtig sein kann und jede Person das machen sollte worauf sie/er Lust hat. Am Ende geht es natürlich darum Grundsätze einzuhalten. Zu denen gehört: Menschen helfen, keine Abhängigkeit produzieren, Menschen zur Selbsthilfe befähigen, Ihre Selbstwirksamkeit stärken, Zuhören. Es gibt verschiedenste Arten von Patienten, warum dann nicht auch verschiedene Therapeuten? Ob man an diese oben genannten Ziele nun über objektiv messbare Kriterien kommt, alle aktuellen Studienergebnisse zu Rate zieht oder einfach „auf seine Hände hört“ scheint unter Anbetracht der grundlegenden Regeln egal. Am Ende entscheidet der Markt, sprich die Klienten, welcher Auslegung der Physiotherapie mehr Beachtung geschenkt wird. Die, die am Ende die besten Ergebnisse liefern und natürlich auch die beste Werbung für sich machen werden letztendlich auch mehr Zulauf generieren.
4. Verbandsarbeit und Politik
Statt also Wert auf Kleinkriege zwischen den Ausrichtungen der Profession zu legen wäre mehr Verbands-, und politische Arbeit wünschenswert. Es ist an der Zeit zu realisieren, dass die Physiotherapie sich nicht mehr selbst finden muss. Wir benötigen eine einheitliche Vertretung, ein einheitliches berufliches Commitment – eben keine Uneinigkeit zwischen den Ausrichtungen. Bereits 1997 sagte Antje Hüter-Becker in ihren Gedanken zum neuen Denkmodell der Physiotherapie, dass die Profession unzählige Untersuchungs- und Behandlungstechniken habe. Das wichtige dabei sei die Einheit in der Vielfalt zu finden [1]. Unseren politischen Vertreter, Dr. Roy Kühne (CDU), habe ich noch nie über Vor- und Nachteile der craniosacralen Therapie sprechen hören. Er setzt sich für uns ein und ihm ist es egal ob ein Therapeut seinem Bias entspricht oder nicht. Er hat Hüter-Becker verstanden und macht offen Werbung für die Physiotherapie, egal in welcher Ausrichtung auch immer.
5. Einheit in der Vielfalt
Die Frage sollte also nicht mehr lauten: Welche Form der Physiotherapie ist besser? sondern: Wie kann sich die Physiotherapie gegen andere Professionen behaupten? Der zentrale Tenor ist laut Hüter-Becker Bewegungstherapie [1]. Dem stimmen wohl alle Therapeuten zu. Wie können wir über Bewegungstherapie Operationen, Injektionen und medikamentöse Therapie verringern oder unnötig machen? Wie können wir über Bewegungstherapie dafür sorgen, dass Menschen weniger Schmerzen haben? Wie können wir ihre Gesundheit positiv beeinflussen? Wie können wir genau das durch die uns möglichen Mittel vermarkten? Genau das sind die großen Fragen der heutigen Zeit. Wenn die Physiotherapie nicht abgehängt werden möchte muss Sie sich diese Fragen stellen.
6. Schlussfolgerungen
Ein erster Schritt in die Zukunt ist die Gleichberechtigung des physiotherapeutischen Berufs. Schon lange sollte unsere Profession ein ebenso wichtiger Teil der Gesundheitsversorgung sein, wie es andere Berufsgruppen auch sind. Gerade in Zeiten in denen durch Studien die Wirksamkeit von Operationen am subacromialen Impingement [2], am Meniskus [3], am Kreuzband [4] oder an der Bandscheibe [5] infrage gestellt werden ist die Nachfrage an Physiotherapie enorm. Denn diese gestalten den Übergang von der Rehabilitation zur Sekundärprävention zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheit. Das ist unser Job! Es ist auch unser Job darüber aufzuklären, dass wir bessere Alternativen bieten können als so manch ein Chirurg vermag. Die Physiotherapie ist eine überaus starke Profession mit riesigem Einfluss auf die Menschheit. Die Blankoverordnung war der erste Schritt. Viele weitere werden hoffentlich folgen. Neben der früher im Fokus stehenden Heilgymnastik sind es heute auch präventive und sekundärpräventive Behandlungsansätze die die Physiotherapie gesellschaftlich wichtig machen. Diese Gleichberechtigung muss politisch erkämpft werden. Statt sich in ein Lager der Manualtherapeuten, Osteopathen oder Sporttherapeuten einzuordnen, wäre es viel besser sich als Physiotherapeut zu sehen. Als wichtiges Teil der Gesellschaft und der Gesundheitsversorgung. Statistiken und Studien sind nicht alles. Am Ende des Tages muss immer individuell vorgegangen werden.
Bleibt evidenzinformiert, handelt aber nicht nur nach den neuesten Studien. Diese finden vor allem heraus, was keinen Effekt hat. Probiert einfach was aus und macht eure eigene Fallstudie daraus. Und noch wichtiger: zwingt niemandem eure Überzeugungen auf. Es gibt immer etwas was ihr von anderen Therapeuten lernen könnt, bleibt auch da wachsam und verurteilt niemanden vorschnell. Lebt die Pluralität des Berufes und seid euch euren Stärken bewusst. Engagiert euch politisch oder in Berufsverbänden. Geht auf physiotherapeutische Messen oder Kongresse und tauscht euch mit Kollegen aus. Man kann immer etwas lernen. Seid stolz auf euren Beruf und tragt dies nach außen. Unterschreibt Petitionen und nehmt an Demonstrationen teil. Nur so kommen wir weiter, nicht darüber herauszufinden was der heilige Gral der Physiotherapie ist.
Danke fürs Lesen,
Philipp Rey
[1]: Hüter-Becker A. Krankengymnastik – Zeitschrift für Physiotherapeuten, 49 (1997), S. 565-567
[2] Beard, D., Rees, J., Rombach, I.et al.The CSAW Study (Can Shoulder Arthroscopy Work?) – a placebo-controlled surgical intervention trial assessing the clinical and cost effectiveness of arthroscopic subacromial decompression for shoulder pain: study protocol for a randomised controlled trial.Trials16,210 (2015). https://doi.org/10.1186/s13063-015-0725-y
[3] Exercise therapy versus arthroscopic partial meniscectomy for degenerative meniscal tear in middle aged patients: randomised controlled trial with two year follow-up.Kise NJ, Risberg MA, Stensrud S, Ranstam J, Engebretsen L, Roos EM. Br J Sports Med. 2016 Dec;50(23):1473-1480. doi: 10.1136/bjsports-2016-i3740rep.
[4] Kostogiannis, I., Ageberg, E., Neuman, P., Dahlberg, L., Friden, T., & Roos, H. (2007). Activity Level and Subjective Knee Function 15 Years after Anterior Cruciate Ligament Injury: A Prospective, Longitudinal Study of Nonreconstructed Patients.The American Journal of Sports Medicine,35(7), 1135–1143.https://doi.org/10.1177/0363546507299238
[5] Schoenfeld AJ, Weiner B. Treatment of lumbar disc herniation: Evidence-based practice.Int J Gen Med. 2010;3:209-214
https://doi.org/10.2147/IJGM.S12270